Gedanken zum Krieg am „Tag des Sieges“

11. Juni 2022

Wir dokumentieren im folgenden einen Redebeitrag, den ein Mitglied der Pankower VVN-BdA auf einer Dauerkundgebung des Berliner Landesverbandes am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow am 9.5. gehalten hat!

Liebe Menschen in der Runde,
Liebe Umstehenden,
Liebe Vorbeilaufenden.

Die Holocaust-Überlebende Vanda Obiedkova starb im April aufgrund der Kriegsbedingungen in Mariupol

Mein Beitrag wird kurz und traurig. Jedesmal wenn ich meinen Schlüssel nehme und die Wohnung verlasse, schaue ich in das hoffnungsvolle Gesicht einer Frau. So auch vorhin. Zentral ist sie auf ein 1944 erschienenes Plakat von Viktor Koretzkii, geboren in Kiew, gedruckt.
Die Frau steht vor einem nachtgrauen, wolkenschweren Himmel. Am Horizont stehen einige Ruinen in Flammen. Sie streckt ihre Arme vor, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Handgelenke sind von Metallbändern und einer Kette gefesselt. Die Bänder tragen Hakenkreuze, doch die Kette wird zerschlagen – zerschlagen von drei Schwertern. Auf den Schwertern prangen die Zeichen der Alliierten, die der USA und Großbritanniens links, rechts das der Sowjetunion.


Mit leicht lichtbeschienenem Gesicht schaut die Frau hoffnungsvoll zum Himmel. „Europa“ und „Wird frei sein“ steht dort auf Russisch. „Europa wird frei sein.“ Was dieses Plakat 1944 versprach, trat vor 77 Jahren ein. Europa wurde vom Horror und Terror des NS befreit. Deswegen können wir hier heute stehen. Dank den Befreier*innen! Am Rand Berlins kapitulierte die Wehrmacht, das Letzte, was vom Deutschen Reich noch übrig geblieben war, bedingungslos.
Allein im Kampf um Berlin fielen mehr als 20.000 Rotarmistinnen und Rotarmisten. Ein Großteil der Gefallenen wurden hier in Treptow, im Tiergarten oder in Pankow beigesetzt. Auch wenn dieser Ort hier größer und pompöser ist als der in Pankow, liegen dort die meisten von ihnen, im sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide – über 13.200 Menschen aus allen Republiken der damaligen Sowjetunion.
Das Ehrenmal in Pankow und dieses hier verbinden die Frauenskulpturen: die trauernde Mutter Heimat, hier wie dort. Auch wenn die stereotype Symbolik 2022 überholt scheint, fühle ich mich ihnen heute näher, als dem heroischen Retter des Kindes dort hinten. Die dankbare Freude der letzten Jahre ist dankbarer Trauer gewichen. Krieg in seinem großen, schrecklichen Ausmaß ist mit Putins Befehl zum Angriff auf die Ukraine nach Europa zurückgekehrt, findet nicht mehr in diesem westlich-eurozentrischen „irgendwo anders“ statt. Niemand kann gerade sicher sagen, wie oder ob er sich ausweiten wird, wie und wann er enden wird.
Am 24. Februar lebten noch etwa 42.000 hochbetagte Überlebende des Naziregimes in der Ukraine, befreite KZ-Überlebende, Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene, Mißhandelte. Einer von ihnen war Borys Romanchenko:
Borys Romanchenko wurde 1926 bei Sumi geboren. Als er 1942 zur Zwangsarbeit nach Dortmund verschleppt wurde, hatte er als Kind also bereits den Holodomor überlebt. 1943 versuchte er zu fliehen, wurde gefasst, in Buchenwald eingesperrt und überlebte drei weitere Lager. Bis zum 18. März war er Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora. Am 18. März wurde Borys Romanchenko bei einem russischen Bombenangriff auf Kharkiv getötet.
Eine andere Überlebende war Vanda Obiedkova:
Die zehnjährige Vanda Obiedkova versteckte sich 1941 im Keller, als die SS in Mariupol jüdische Menschen jagte. Ihre Mutter wurde gefasst und ermordet. Vanda überlebte. 81 Jahre später versteckte sie sich wieder im Keller, diesmal zusammen mit ihrer Tochter. Diesmal vor Bomben. Durch Wassermangel und Kälte geschwächt, starb sie am 4. April. Ihre Tochter begrub sie in einem Park in Mariupol.
Borys Romanchenko und Vanda Obiedkova sind nur zwei der damals Überlebenden, die jetzt Opfer dieses Krieg werden. Nur zwei von den Zehntausenden die bisher getötet wurden und gerade getötet werden.
Und wenn ich nachher nach Hause komme, in ein nicht zerstörtes Haus gehen kann, wird dort wieder die Frau auf dem Plakat sein. Die brennenden Ruinen und das „Europa wird frei sein“.
Frei von Krieg? Wann wieder?
Danke.