„Wir leben leider im Kapitalismus“

12. September 2020

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Andrej Hermlin im Gespräch über Musik in Coronazeiten, seinen Weg in die VVN-BdA vor über 30 Jahren und Ideen im Kampf um deren Gemeinnützigkeit

Andrej Hermlin ist Pianist und leitet das Swing Dance Orchestra. Bei den teils internationalen Auftritten wird Swing im Stil der 30er Jahre gespielt. Er wurde am 21. September 1965 in Berlin als Sohn der russischen Germanistin Irina Belokonewa und des Schriftstellers Stephan Hermlin geboren. Heute lebt er mit Familie in Pankow-Niederschönhausen. Gemeinsam mit seiner Frau Joyce, Tochter Rachel und Sohn David sowie verschiedenen Musikern produziert Andrej Hermlin mit den „The Swingin‘ Hermlins“ seit Mitte März allabendlich die halbstündige Sendung „The music goes round and around“. Infos: kurzelinks.de/the-swingin-hermlins. Mit Andrej Hermlin sprach Mitte August Andreas Siegmund-Schultze. Das Interview erschien in einer gekürzten Fassung in der Augustausgabe von „Unser Blatt“, der Zeitung der Berliner VVN-BdA

Die Pandemie umgibt uns nunmehr bald ein halbes Jahr. Du bist ein leidenschaftlicher Musiker. Blicken wir mal in die Zeit des Lockdowns im März zurück. Welches Erlebnis war da für Dich besonders prägend?

Am 10. März sind wir als Swing Dance Orchestra das letzte Mal in der Philharmonie aufgetreten. Zuvor hatte ich kurz mit Klaus Lederer, dem Kultursenator der Stadt telefoniert, der mir sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, es bleibe alles geöffnet und der Kulturbetrieb laufe weiter. Als wir dann von der Bühne gingen, kam die Nachricht, die Einrichtungen schließen allesamt. So schnell können sich die Dinge ändern. Dies ist kein Vorwurf an Klaus Lederer, der derzeit sehr viel für die Kultur und Kunst unternimmt und sich seit Monaten aufreibt. Zu dem Zeitpunkt war mir dann klar, das ist eine Zäsur größten Ausmaßes und ich war in den folgenden Tagen ziemlich angeschlagen. Am 14. März hatte ich noch einen kleinen Auftritt in einem kleinen Lokal, dem Yorckschlösschen in Kreuzberg. Tränenüberströmt saß ich dort am Ende am Klavier.

Irgendwie ging es aber doch weiter, es entstand die tägliche Sendung „The music goes round and around“. Erzähle bitte davon.

Zuvor hatten meine Frau Joyce und ich über die Idee gesprochen, Hauskonzerte in unseren eigenen vier Wänden hier in Niederschönhausen organisieren zu wollen, aber Joyce sagte, das werde nicht genehmigt, wir sollten vielmehr damit ins Internet gehen. Dann haben wir am 15. März begonnen. Seitdem haben wir eine tägliche Sendung und weltweit schauen Menschen zu. Aus Peru, den USA, China, Mexiko, Israel beispielsweise. Inzwischen besteht aber auch ab und an wieder die Möglichkeit, auf der Straße zu spielen oder kleinere Auftritte zu absolvieren. Aber ich mache mir keine Illusionen. Wir segeln unter dem Radar mit dieser kleinen neuen Besetzung, als „The Swinging Hermlins“. Der Kulturbetrieb so, wie wir ihn kannten, ist zerstört und kommt auf absehbare Zeit nicht wieder. Nun ist die Kultur aber auch nicht das einzig Entscheidende in einer Gesellschaft.

Kunstschaffende, darunter eben auch aus der Musik- und Clubszene, trifft die aktuelle Situation besonders krass. Wie zeigt sich dies für Dich sowie Dein Umfeld. Gibt es Solidarität?

Natürlich würde ich mir wünschen, dass sich die Gesellschaft solidarisch gegenüber den Künstlern verhält. Gerade jene, die Arbeit haben und denen es gut oder noch gut geht, gerade die sollten rücksichtsvoll mit jenen sein, die auf der Straße spielen. Ich finde es wichtig, sich die Frage zu stellen, was für ein Berlin wollen wir? Doch hoffentlich eines, in dem großzügig miteinander umgegangen wird und kein verbiestertes, böses Berlin. Aber was ist ein einzelner Künstler, der auf der Straße spielt, denn wert in dieser Gesellschaft; im Gegensatz beispielsweise zu einem großen Unternehmen, das vor dem Kollaps steht? Am Ende ist der Künstler auf sich selbst gestellt und muss kämpfen, wir leben leider im Kapitalismus. Es wäre schön, von einer Gesellschaft zu träumen, die in einer solchen Situation mit den Schwachen solidarisch ist und ihnen hilft, wofür es sicher auch einzelne Beispiele gibt. Aber in seiner Gesamtheit? Die Menschen werden am Ende leider nur versuchen, irgendwie zu überleben. Jeder für sich. Bei einer ganzen Reihe von Kollegen, die ich kenne, sehe ich derzeit ein Gefühl der Schockstarre. Viele sind enttäuscht, verärgert, verwirrt oder neidisch.

Es wäre schön, von einer Gesellschaft zu träumen, die in einer solchen Situation mit den Schwachen solidarisch ist und ihnen hilft, wofür es sicher auch einzelne Beispiele gibt.

Andrej Hermlin

Und wie gehst Du persönlich mit der derzeitigen Lage um?

Ich hab mir für mich einen Weg gesucht, ich kann nicht abwarten. Da muss ich durch und ich versuche, die Zeit zu überstehen. Am Kollwitzplatz hatten wir letztlich mit unserer Band die Situation, dass dort hunderte Menschen unsere Musikauftritte toll finden und dann gibt es einige wenige, die das nicht so sehen und das Ordnungsamt rufen. Das empfinde ich als äußert unsolidarisch.

Und welche Zukunft siehst Du für die Veranstaltungsorte der Stadt?

Auch dort ist die Lage katastrophal. Mit den geltenden Abstands- und Hygieneschutzregeln sind die meisten Kultureinrichtungen nicht zu halten. Wenn ein Veranstalter im Konzerthaus am Gendarmenmarkt oder im Wintergarten beispielsweise nur 20 bis 30 Prozent der sonst üblichen Plätze besetzen darf, ist das wirtschaftlich nicht zu stemmen. Es sei denn, die Karten kosten 150 Euro pro Stück, was nur Wohlhabenden derlei Besuche ermöglichen würde. Man könnte sicherlich einwenden, dass es unlogisch ist, in einem Airbus A350-900 rund 330 Passagiere auf engsten Raum acht Stunden gedrängt sitzen zu lassen und in einem Konzertsaal geht das nicht. Das läuft so, weil die Fluggesellschaften der Regierung ankündigten, sonst nicht zu fliegen. Und so erließ man eine Ausnahmeregelung. Bei der Kultur ist es ein wenig anders. Ich muss schon sagen, dass das eine Beleidigung meines logischen Denkens ist, und ich ärgere mich darüber. Wenn ich schon beschwindelt werde, möchte ich, dass es so geschieht, dass ich es nicht sofort merke.

Beispiele für doppelte Standards in puncto Hygiene- und Abstandsregeln gibt es ja mannigfaltig, als Stichworte seien hier nur die Bedingungen für Geflüchtete in der Landwirtschaft oder die Situation in der Fleischverarbeitung und in vielen Logistikzentren genannt. Gehst Du mit der Grundrichtung der Regeln dennoch d’accord?

Ich bin mir sicher – so kritisch die Pandemie auch für den Einzelnen, der an ihr erkrankt oder gar stirbt, ist –, die Folgen der getroffenen Maßnahmen übertreffen die Folgen der Krankheit selbst bei weitem. Ich bezweifele, ob alle Maßnahmen wirklich zielführend waren, ob man sich genug Gedanken gemacht hat, welche Konsequenzen diese haben werden und ob überlegt wurde, wie man aus bestimmten Maßnahmen auch wieder herauskommt.

Große Sorgen macht wir derzeit etwas anderes: Die schon überall sichtbaren Vorboten einer weltweiten Wirtschaftskrise. Die Wirtschaft steht in fast allen Ländern der Erde größtenteils still. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler glauben, es wird schlimmer als 1929. Wir befinden uns in einer Krise, die nicht nur die Industrieländer erfasst hat, sondern die gesamte Welt. Dass die Wirtschaftsleistung in den USA in einem Quartal um 32 Prozent fällt, in Deutschland über zehn Prozent: Wann gab es das zum letzten Mal? Seit Beginn der Aufzeichnung jedenfalls nicht.

Anfang August zogen zehntausende sogenannte Coronaskeptiker durch Berlins Mitte, unter Missachtung aller Abstands- und Hygieneregeln; sehr lange geduldet von Berlins Polizei. In ihren Reihen geduldet waren auch Nazis, Verschwörungsideologen und Antisemiten. Diese Veranstaltung wirkte mitunter wie ein großer Festumzug, auch Teile der Berliner Clubszene waren mittenmang. Was sagst Du dazu?

Die Stimmen der Vernunft werden leider nicht lauter, sondern leiser.

Andrej Hermlin

Inzwischen haben wir eine Situation, bei der auf beiden Seiten der Irrsinn immer weiter zunimmt. Auf der Seite derer, die die Regierungspolitik befürworten, gibt es eine zunehmende Radikalisierung. Man ruft, „setz eine Maske auf oder ich zeig Dich bei der Polizei an!“ beziehungsweise man denunziert den Nachbarn für Belanglosigkeiten. Und auf der anderen Seite gibt es dann Leute wie Xavier Naidoo, die behaupten, es gäbe eine gigantische Verschwörung und alles sei nur dazu da, die Bevölkerung auszuradieren und die Juden steckten dahinter. Die Stimmen der Vernunft werden leider nicht lauter, sondern leiser.

Nicht übersehen werden sollte, auf diesen Demos gab es nicht nur organisierte Rechte, sondern auch viele, die verunsichert sind, die Angst haben oder von den Maßnahmen existentiell betroffen sind. Wenn man alle diese Leute aburteilt, was manche Politiker und ein Teil der Medien getan haben, erzeugt dies einen ungewünschten Effekt, nämlich den, dass sich Leute mit diesen Demos solidarisieren; auch wenn viele sonst nichts zu tun haben wollen mit irgendwelchen Reichsbürgern. Das führt zu einem Abbruch von Gesprächen und produziert massive gesellschaftliche Probleme.

Ich selbst würde auf einer solchen Demo nicht erscheinen. Prinzipiell gehe ich auf keine Veranstaltungen, an denen sich sichtbar und erkennbar Neonazis und Antisemiten beteiligen würden. Dies ist eine Sache der politischen Hygiene. Aber ich muss wahrnehmen, dass es aktuell aufgrund der Notlage eine Solidarisierung gibt zwischen solchen Rechten und „normalen“ Bürgern. Manche sind regelrecht gekränkt, plötzlich mit Trägern von Reichskriegsflaggen in einem Atemzug genannt zu werden oder mit jenen, die behaupten, dass Bill Gates die ganze Weltbevölkerung impfen und dezimieren wolle.

Wie also umgehen mit dem Phänomen?

Ich würde mir eher die Frage stellen, was da eigentlich passiert und man sollte versuchen hochzurechnen, wie sieht das in einem halben oder einem Jahr aus, wenn die Arbeitslosenrate noch weiter ansteigen sollte. Welche Stimmungen werden sich dann verstärken in der Gesellschaft, welche bedeutungsloser werden. Welche Kräfteverhältnisse werden wir sehen und wie wird die politische Elite dieses Landes, oder die Linken bzw. die Rechten darauf reagieren? Diese viel spannenderen Fragen werden aber kaum gestellt. Weil sich alle an diesen Demonstrationen abarbeiten. Ich empfinde das als Zeitverschwendung. Seit Jahren versuche ich darauf hinzuweisen, dass sich die Gesellschaft destabilisiert und dass es einen zunehmenden Abstand zwischen Regierten und Regierenden gibt. Es herrscht ein großes Misstrauen der Regierten gegenüber den Regierenden, andererseits verstehen die Regierenden die Regierten nicht mehr. Antisemitismus und Rassismus breiten sich aus. Ich habe stets betont, was uns noch fehlt, um die Sache in eine richtig gefährliche Richtung zu bringen: Eine veritable Wirtschaftskrise und die ist jetzt da. Ich bin kein Prophet, ich hoffe mich zu irren. Im Moment habe ich aber das Gefühl, dass wir völlig am Thema vorbei diskutieren. Und die Demonstration, die wir in Berlin gesehen haben, ist ein mildes Vorzeichen gegenüber dem, was noch kommen kann. Wenn wir nicht anfangen, die richtigen Fragen zu stellen, bei denen die Antworten sehr schmerzhaft sind, dann werden wir dieses Land verlieren. Wir müssen aufhören, die Wirklichkeit zu ignorieren.

Wir wollten auch über die VVN-BdA reden, der Du im Bezirk Pankow seit rund 30 Jahren angehörst. Der Vorstand des dortigen Kreisverbandes ist vor kurzem auf zwei Dokumente gestoßen: Einerseits die die Registrierungsurkunde vom Pankower Bund der Antifaschisten durch das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte vom Juni 1990, die DDR existierte also noch. Andererseits ein Vereinsregisterauszug aus dem Jahr 1992 u.a. mit Dir und Deiner traurigerweise jüngst verstorbenen Schwester, der Schoa-Überlebenden Andrée Thérèse Leusink, im Vorstand. An was denkst Du, wenn Du die Dokumente heute in der Hand hältst?

Zunächst beim Blick auf die Postleitzahl 1100 daran, wieviel Zeit seitdem vergangen ist. Ich habe wenig Einzelheiten in Erinnerung. Ich vermute, dass mich Andrée bewegte, in den BdA einzutreten. Ich war zu jener Zeit politisch praktisch nicht organisiert. In den 1980er Jahren war ich Mitglied der FDJ gewesen, wie vermutlich etwa 90 Prozent der DDR-Jugendlichen und habe dort immer eine kritische Rolle gespielt. Im Herbst 1989 suchte ich nach einer Möglichkeit, mich zu organisieren. Im November sah ich zufällig im damaligen Palasthotel auf einem Fernsehbildschirm die Übertragung einer Demo von SED-Mitgliedern vor dem Zentralkomitee. Das war ein geschlagener Haufen. Menschen, die verzweifelt, vollkommen verwirrt waren, da war nichts Prahlerisches mehr, nichts Machtvolles. Und plötzlich hatte ich mit Mitte 20 das Gefühl, da gehöre ich hin. Meine Hoffnung war zu jener Zeit, dass die Partei durch den Untergang der DDR und ihre Hinwendung zum demokratischen Sozialismus all die Karrieristen, die Stalinisten verlieren würde. Das war wohl teilweise eine Illusion, denn es blieben natürlich auch sehr viele Leute in der Partei, mit denen ich wenig Gemeinsamkeiten hatte. Zu dieser Zeit fand ich dann auch meinen Weg in den Pankower BdA.

Wie wurde Dein Eintritt in die SED/PDS denn in Deinem Umfeld wahrgenommen?

Ich habe dafür ganz schön bezahlt: Freunde, Bekannte, Leute aus meiner Band waren entsetzt von diesem Schritt. Es gab schon eine merkwürdige Atmosphäre in dieser Zeit. Wie manch andere ostdeutsche Linke wollte ich die DDR ja nicht abschaffen, sondern eine völlig andere DDR. Heute ist mehr als offensichtlich, dass dies eine Illusion war. Meine Vorbilder waren Alexander Dubček aus der Tschechoslowakei und ab Mitte der 1980er Jahre Michail Gorbatschow. Im Herbst 1989 kam für mich nicht in Frage, zum Neuen Forum zu gehen, in dem auch enge Freunde von mir aktiv waren – trotz des Drucks, der auf mich ausgeübt wurde. Zwar hatten sie mit fast allem recht, was sie kritisierten, dennoch hatte das Neue Forum für mich den Charakter eines Diskutiervereins und es sollte vor allem geredet werden. Mir fehlte daran die große, politische Idee.

Die Jahre um das Ende der DDR waren ja auch mit einem Aufleben des deutschen Nationalismus und rassistischen Pogromen wie in Mölln, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen verbunden. Sich während des Einheitstaumels antifaschistisch zu äußern und zu organisieren, erregte doch bestimmt auch Widerspruch …

Widerspruch hat mir nie besondere Sorgen bereitet. Natürlich habe ich einiges aushalten müssen. Auf der Straße hörte ich „rotes Schwein“ oder so. Wenn man sich exponiert, muss man damit rechnen und leben. Meinungsfreiheit, und dies wird häufig missverstanden, bedeutet eben nicht, dass ich meine Meinung unwidersprochen äußern kann. Es ist erstaunlich, dass manche neue Rechte ihre Meinung gern unwidersprochen äußern wollen und wenn ihnen dann plötzlich Gegenwind entgegen bläst, erwidern, sie dürften ja nichts mehr sagen.

Bei der Bewertung der Ereignisse beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen damals oder auf Walter Lübcke vor einigen Monaten, machen viele einen eklatanten Fehler, so schlimm die Angriffe für die Betroffenen und ihr Umfeld auch waren und sind. Diese Attacken sind Tragödien, keine Frage. Die Täter müssen verurteilt werden und die Strukturen müssen aufgedeckt werden. Wir konzentrieren uns auf diese Attentate, wir mahnen, empören uns und gehen auf die Straße, das ist aber nicht die zentrale Frage. Wir sollten uns fragen, was denken die Menschen hinter den Fenstern? Welchen Zusammenhang gibt es mit den Motiven der Leute, die nicht gleich morden oder brandschatzen?

Welchen Zusammenhang gibt es mit den Motiven der Leute, die nicht gleich morden oder brandschatzen?

Andrej Hermlin

Auf antifaschistischen Demos hört man häufiger Sätze und Parolen, wie „wer schweigt, stimmt zu“ …

Um diese Fragen drücken sich die meisten, weil sie die Antworten fürchten. Was fühlen und denken die Menschen in Deutschland wirklich in ihrer Mehrheit. Immer wieder ist, auch von linker Seite zu hören, es gäbe eine gewisse Minderheit, die ist rassistisch und die ist antisemitisch und wir müssen den Kampf dagegen führen und so weiter. Ich sage aber, das ist Blödsinn, denn es ist d i e Mehrheit.

Nehmen wir mal an, ich hätte Recht. Nehmen wir mal an, es stimmt, was mir Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung zu einer Umfrage letztlich berichtet hatte, derzufolge bei gängigen antisemitischen Stereotypen und welche davon für wahr gehalten werden, nur elf Prozent der Befragten keines angekreuzt hatten. Was bedeutet das eigentlich? Was bedeutet es, wenn in bestimmten zentralen Fragen eine Mehrheit gegen „uns“ ist, was auch immer damit gemeint sein soll. Dies würde bedeuten, es wird gegen die Mehrheit regiert.

Ich habe es satt, dass wir die Situation schönreden, dieses Sich-vor-machen. Das ist furchtbar anstrengend. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen nicht gern über düstere Dinge reden, nur: Es hilft nichts, das sein zu lassen. Nach meiner Auffassung blicken wir derzeit einer sehr schwierigen Zeit entgegen. Jedes Jahr am 27. Januar erinnern wir an die Schoa. Im Jahr 2020 denken viele Deutsche aber dass die Juden manipulieren, sie Impfstoffe entwickeln, um die Menschheit auszurotten, sie denken, dass die Juden zu viel Geld haben, dass Israel schlimmer ist als die Nazis, dass die Juden die Palästinenser vernichten wollen. Aber kaum jemand redet darüber, es wird so getan, als gäbe es das in einem solchen Ausmaß nicht. Ich fände es wichtig, auch als VVN-BdA, die Karten auf den Tisch zu legen.

Nochmal zu Dir selbst. Wenn man nun 30 Jahre seines Lebens einem Verein die Treue hält und ihn auch mitgegründet hat: Woran erinnerst Du Dich besonders gern und hast Du auch mal daran gezweifelt, ob der Laden der Richtige für Dich ist?

Ich beginne mal mit dem zweiten. So gab es einen älteren Kameraden, den Namen habe ich zum Glück vergessen, ein Antifaschist und Kommunist, der gab kurz nach der BdA-Gründung mal in einer Sitzung, in der ich auch war, zum besten: „Naja, das mit den ganzen Ausländern hier, dass geht aber auch nicht“. Da stellte sich dann ungefähr das gleiche Gefühle der Fremdheit ein, wie einige Monate später während eines Disputs mit einem bedeutenden Berliner PDS-Mitglied, der mir auf der Straße erklärte, das Schlimmste, was den Juden in ihrer 2.000jährigen Geschichte widerfahren sei, sei die Gründung Israels. Also nicht die Schoa, sondern die Gründung ihres Staates!

Erlebnisse wie diese trugen zu einer gewissen Ernüchterung und dann auch Rückzügen aus Verein und Partei bei, allerdings bin ich weiterhin Mitglied. Im Hinblick auf den BdA habe und hatte ich gelegentlich den Eindruck, es ginge immer viel zu sehr um Strukturen, Finanzen und Rechenschaftsberichte, jedoch relativ selten darum, auf welche Weise wir gegen den aufkommenden neuen Faschismus und den immer schon dagewesenen Faschismus kämpfen wollen. Wichtig wäre auch eine relativ nüchterne Einschätzung der eigenen Bedeutung und der Kräfteverhältnisse im Land. Ich habe bis heute den Eindruck, dass manche nicht wahrhaben wollen, dass die Mehrheit der Gesellschaft rassistisch und antisemitisch ist und man sich stattdessen hinter Formalien versteckt.

Ein Berliner PDS-Mitglied erklärte mir, das Schlimmste, was den Juden in ihrer 2.000jährigen Geschichte widerfahren sei, sei die Gründung Israels. Also nicht die Schoa, sondern die Gründung ihres Staates!

Andrej Hermlin

Die Punks, die in der Kirche von unten und der autonomen Antifa 1989 und später auch in der Mainzer Straße auf der Straße aktiv waren, haben vielleicht mehr für den Kampf gegen den Faschismus getan, als der BdA. Zumindest partiell lag dies auch daran, dass der BdA einst dominiert wurde von Menschen, die aus der SED kamen und versuchten, die teilweise ziemlich erstarrte Erinnerungskultur der DDR auf die neue Zeit zu übertragen und diese Mitglieder von der Situation natürlich auch vollends überfordert waren, weil ihre alten Formeln versagten. DDR weg, Antifaschismus weg, BRD da, Kapitalismus da.

Du bist nun aber immer noch Mitglied. Was hält Dich also?

In erster Linie Sentimentalität. Und wahrscheinlich die verzweifelte Hoffnung, dass es ja doch gute Leute in der Mitgliedschaft gibt, die es ernst meinen mit dem Namen dieser Organisation. Wer zum Beispiel Israel hasst und seine Existenz in Frage stellt, ist kein Antifaschist, das ist ein Widerspruch in sich. Es gibt aber in der VVN-BdA zum Glück viele Menschen, die das genauso sehen. Und natürlich ist es eine Vereinigung mit Geschichte, sie wurde gegründet auf den Gräbern der Millionen von den Faschisten Ermordeten. Das aufzugeben ist schwer, für jemanden, der als Sohn eines verfolgten Juden und Kommunisten geboren wurde. Das ist vielleicht eine etwas längere Erklärung des Wortes Sentimentalität.

Wenn Antifaschismus nicht gemeinnützig ist, dann verstehe ich die Welt nicht mehr.

Andrej Hermlin

Heute ist die VVN-BdA in einer Situation, die widersprüchlicher kaum sein kann: Verliert die Bundesvereinigung ihre Gemeinnützigkeit, so ist das für sie existenzbedrohend. Andererseits haben die staatlichen Angriffe der antifaschistischen Vereinigung nach jahrelangem schweren Aderlass bundesweit fast 2.000 neue Mitglieder beschert und vielerorts ziemlich brach liegenden Strukturen zu neuer Kraft verholfen. Wie blickst Du auf diese Entwicklungen?

Da ich kein Jurist bin, kann ich zu den Details nichts sagen. Ich finde es ungeheuerlich, dass man 2020 einer Organisation, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten heißt, die Gemeinnützigkeit entzieht. Wenn Antifaschismus nicht gemeinnützig ist, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Es ist nur ein Zeichen, in was für einen Strudel wir schon gekommen sind und es wirft ein Schlaglicht auf den Zustand dieses Landes. Aber Organisationen müssen manchmal neue Wege finden, um zu überleben, wie wir es als Musiker gerade auch versuchen müssen. Ich habe keine Lösung. Es wäre fatal, wenn sich die VVN-BdA auflösen müsste und eine große Tragödie. Insofern heißt es auch, über unkonventionelle Ideen nachzudenken, wie man die VVN-BdA retten kann.

Andrej, vielen Dank für das Gespräch!