400 Menschen erinnern an Auschwitz-Befreiung

28. Januar 2019

Bild: Oskar Schwartz

Die alljährliche Kundgebung im Gedenken an die Auschwitz-Befreiung am 27. Januar fand auch 2019 unter reger Anteilnahme Pankower Bürger*innen statt. Rund 400 Menschen, mehr als im Vorjahr, versammelten sich am frühen Abend am Ehemaligen Jüdischen Waisenhaus. Viele brachten Kerzen mit. Eindrücke folgen hier und auf lichterkette-pankow.de in den nächsten Tagen, einzelne der gehaltenen Redebeiträge sind hier schon zu lesen

Redebeitrag von Sören Benn, Bezirksbürgermeister von Pankow (Die Linke). Gehalten auf der Gedenkkundgebung am 27.1. 2019 in Berlin-Pankow

Warum erinnern wir Jahr für Jahr wieder an die systematische, industriemäßige Ermordung der Europäer jüdischen Glaubens? Um uns selbst zu kasteien, zu erniedrigen, um uns klein zu halten, einen „Schuldkult“ zu pflegen? Natürlich nicht. Es geht um etwas anderes.

Die Erinnerung ist das Immunsystem der Gesellschaft. Gedenken und Erinnerungsarbeit sind die bescheidenen Instrumente, mit denen wir versuchen dem entgegen zu treten, was eben auch in uns Menschen wohnt: nämlich die Fähigkeit und Bereitschaft, das zu tun, was zwischen 1933 und 1945 Wirklichkeit wurde.

Wenn diese Erinnerung kein erstarrtes Ritual werden soll, wenn sie zu mehr nützlich sein soll, als uns hier in unserer antifaschistischen Gesinnung gegenseitig zu bestätigen, dann muss diese Erinnerung aufklären über den Weg in den Holocaust und sichtbarmachen, wie es dahin kommen konnte. Dabei muss sichtbar werden wie wirtschaftliches Elend, Missachtung demokratischer Verfassung, rassistische Ideologien, Feindschaft der Arbeiterparteien und Interessen des Großkapitals eine Suppe ergaben, aus der die Barbarei entstand.

Nur wer dies weiß, wird in der Lage sein, dauerhaft einer Wiederholung vorzubeugen. Denn: Weil es schon einmal geschehen ist, kann es wieder geschehen und darum ist es nicht hysterisch, sondern geradezu geboten, Rassismus entgegenzutreten, Solidarität grenzüberschreitend zu üben, toxischen Reichtum umzuverteilen, den Rechtsstaat zu verteidigen und nicht zuzulassen, dass über (… nicht lesbar) Gruppen wie über Ungeziefer und Naturkatastrophen geredet wird. Es gilt also dafür einzutreten, alle Menschen mit gleichen Rechten zu versehen.

Die Erinnerung ist der Kompass im Heute. Ohne ihn werden wir den Weg in ein humanes Morgen nicht finden. Der Kampf gegen den Antisemitismus bleibt dabei eine unverzichtbare Orientierung.

 

Redebeitrag von VVN-BdA Berlin-Pankow e.V. Gehalten auf der Gedenkkundgebung am 27.1. 2019 in Berlin-Pankow

An einem Gedenktag wie heute schauen wir nicht nur zurück in Trauer um die Opfer des Naziterrors, sondern wir blicken uns auch um in der Gegenwart und wir schauen nach vorn in die Zukunft. Uns verbindet die Forderung und die Hoffnung: „Nie wieder Nazismus, nie wieder Auschwitz!“ Nie wieder wollen wir die Schrecken von Eroberungs- und Vernichtungskrieg, Diktatur und staatlich organisiertem Massenmord zulassen.

Oft haben wir an Gedenktagen wie diesem schon den Spruch gehört: „Wehret den Anfängen.“ Doch über die Anfänge sind wir längst hinaus.

Im Dezember 2018 wurde eine rechtsextreme Gruppe in den Reihen der Polizei in Frankfurt am Main bekannt. Die Gruppe hatte sich die persönlichen Daten einer missliebigen türkischstämmigen Anwältin beschafft. Die rechtsextremen Polizeibeamten sendeten der Anwältin üble rassistische Beschimpfungen. Sie drohten, die kleine Tochter der Anwältin zu töten.

Schon etwas länger als dieser Fall liegt ein anderer zurück – die Aufdeckung eines rechtsextremen Netzwerkes in den Elite-Einheiten von Armee und Polizei. Die zentrale Figur dieses bundesweiten Netzwerkes agierte unter dem Decknamen „Hannibal“; in Verbindung mit diesem Namen wurde der Skandal öffentlich. Die rechtsextremen Elitekämpfer bereiteten sich auf einen Bürgerkrieg vor. Sie planten die Entführung und Ermordung linker Politiker.

Die beiden genannten Fälle sind besonders schwerwiegend, aber sie sind nur zwei von vielen. Kein Monat vergeht ohne große und kleine Skandale wegen rechtsextremer Mitglieder der Staatsapparate. Verwickelt und betroffen sind Verfassungsschutzpräsidenten und Verfassungsschützer ebenso wie Polizeischüler, Kriminalpolizisten oder Justizvollzugsbeamte.

Die rechtspopulistische, teilweise rechtsextreme Partei AfD ist voll von Offizieren und Polizisten, Staatsanwälten und Richtern, voll von Staatsdienerinnen und Staatsdienern aller Couleur. Ein ehemaliger Berliner Oberstaatsanwalt sitzt für die AfD im Bundestag. Der Chef der Berliner AfD ist ein Oberst außer Dienst, der früher Spitzenfunktionen bei der NATO inne hatte.

Meine Damen und Herren, liebe Teilnehmende dieser Kundgebung, der Rechtsextremismus ist in Armee, Polizei, Justiz und Geheimdiensten eingenistet. Rechtsextreme im Staatsapparat können Zugang zu Waffen und brisanten Informationen haben. Sie können ihre Stellungen nutzen, um Gegner zu verfolgen, Gesinnungsgenossen hingegen zu fördern.

Warum gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu rechtsextremen Einstellungen in Armee und Polizei? Im Zusammenhang mit den jüngsten Skandalen wurde diese Frage in den Medien häufig gestellt. Als Antwort heißt es, die polizeilichen und militärischen Apparate verweigerten sich solchen Studien. Sie mauern sich ein gegen die Forschung.

Werte Damen und Herren, liebe Zuhörende, was folgt für uns aus alldem? Dieses: Zur Verteidigung von Demokratie und Frieden, von Menschen- und Bürgerrechten dürfen wir uns nicht auf die zuständigen staatlichen Stellen verlassen. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass es schon nicht so schlimm kommen wird, dass der demokratische Staat es schon irgendwie immer schaffen wird, die rechtsextremen Netzwerke in seinem Innern zu neutralisieren.

Zur Verteidigung von Demokratie und Frieden, von Menschen- und Bürgerrechten braucht es die mündigen Bürgerinnen und Bürger, die dem Staat auf die Finger schauen und ihm dazwischen funken. Es braucht die aufsässige, unbequeme, ungehorsame, misstrauische, widerständige Zivilgesellschaft – in Zeiten wie diesen ganz besonders!

Im Anschluss an diese Kundgebung wird um 19 Uhr der Dokumentarfilm „Killing Nazis“ im Jugendzentrum Pankow (JUP) in der Florastraße 84 gezeigt. Der Film erzählt die Geschichte von Chaim Miller. Dieser flüchtet mit 17 Jahren nach Palästina und hilft dort beim Aufbau der Kommune kfar menachem. Später schließt er sich der Organisation Haganah an, welche unter anderem Sabotageakte gegen die Nazis plant. Chaim Miller und andere kommen schließlich 1945, als der Krieg schon vorbei ist, nach Italien. Sie erfahren immer mehr über das Ausmaß der Vernichtung der Jüdinnen und Juden und beschließen, Selbstjustiz zu üben. Die geheime Aktion „Nakam“ – Nakam heißt „Rache“ auf Hebräisch – beginnt. Ehemalige Naziverbrecher werden entführt, verhört und hingerichtet.

 

Redebeitrag von Sea Watch e.V. Gehalten auf der Gedenkkundgebung am 27.1. 2019 in Berlin-Pankow

Und viele von uns sanken nah der Küsten
Nach langer Nacht beim ersten frühen Licht.
Sie kämen, sagten wir, wenn sie nur wüssten.
Denn dass sie wussten, wussten wir noch nicht.

(Bertold Brecht, Kriegsfibel)

Am 12. Dezember 1940 musste die „Salvador“, ein zweimastiger Segelschoner, den Hafen von Istanbul, trotz schlechten Wetters verlassen. Schiff und Passagiere hatten hier, auf ihrer Reise von Bulgarien, nach Palästina zwischengestoppt. Noch am gleichen Tag geriet das Schiff in einen Sturm in der Marmara-See und sank. An Bord befanden sich 327 Jüdinnen und Juden aus Tschechien und Bulgarien. 204 von ihnen ertranken. Zwei der Überlebenden, eine Mutter mit ihrem kleinen Kind, auf einem Zeitungsfoto unterschrieben mit dem Titel „Refugees without Refuge“ – Flüchtende ohne Zuflucht –, begleiten das Gedicht von Brecht in seiner Kriegsfibel.

Elf Jahre nach dem Untergang der „Salvador“ und 6 Jahre nach Kriegsende wird die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert und über die folgenden Jahrzehnte im Kanon der Menschen & Völkerrechte stolz von Europa paradiert – als große Lehre aus dem Rückfall in die Barbarei.

Am vergangenen Wochenende ertranken knapp 200 Flüchtende – Refugees Without Refuge –, auf dem Weg übers Mittelmeer Richtung Europa. Berichte von Überlebenden legen nahe, dass mindestens ein weiteres Boot mit bis zu 150 Menschen die libysche Küste verlassen hatte, das nirgendwo ankam. 250 Menschen wurden von der sogenannten libyschen Küstenwache – und zwei Frachtschiffen, von denen eines einer deutschen Reederei gehört – zurück in das Land verschleppt, aus dem sie gerade entkommen waren. Im offenkundigen Verstoß gegen das Nichtzurückweisungs-Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention.

Das alles sind keine Unglücke, keine Einzelfälle, keine Katastrophen – das alles ist ein politisch kalkulierter Ausnahmezustand. Auf dem Mittelmeer werden Menschen von all den Lehren, die man angeblich aus dem dritten Reich und der Shoah gezogen hatte, ausgeklammert:

Sie werden dem Tod überlassen, um eventuell Folgende abzuschrecken. Sie werden von durch die EU bezahlten Milizen auf hoher See abgefangen und in Lager verschleppt. Die Zustände dort, sind für uns nur schwer vorstellbar, ohne halb gare Vergleiche mit den KZs der Nazis, wie sie ausgerechnet das deutsche auswärtige Amt bemüht, das selber an diesem staatlich betriebenen Menschenhandel beteiligt ist.

Vor drei Wochen endete die 18-tägige Odyssee von 32 Menschen, die die Crew unseres Schiffes, der Sea-Watch 3, vor diesem Schicksal – Tod oder Verschleppung – bewahren konnte. Wovor wir sie nicht bewahren konnten ist die Erniedrigung durch eine EU-Politik, die alles daran setzt, zu zeigen, dass sie unerwünscht sind und um jede*n Einzelne*n von ihnen feilscht, als seien sie Sondermüll.

Auch unter ihnen waren mehrere allein reisende Mütter mit ihren Kindern. Eine von ihnen, Anfang dreißig, mit ihrem 7-Jährigen Sohn. Die beiden hatten die Reise zum dritten Mal angetreten, nachdem die ersten beiden Schlauchboote Schiffbruch erlitten hatten. Eins direkt nach dem ablegen, das Zweite auf hoher See mit mehreren Toten. Sie hatte sich auf Europa verlassen, das sich so gern als Hort Freiheit und der Menschenrechte präsentiert. Nach dem dritten Versuch und 18 Tagen auf unserem Schiff ohne sicheren Hafen, war auch ihnen schmerzlich klar geworden, dass sie Flüchtige ohne Zuflucht waren.

Im Moment liegt unser Rettungsschiff, das einzige noch im Einsatz befindliche, erneut mit 47 Geretteten vor Italien und darf keinen Hafen anlaufen. Weil es der Protofaschist Matteo Salvini so will und niemand in der EU ein Interesse daran hat ihn zu stoppen.

Doch zum Glück gibt es auch Widerstand. Eine Gegenbewegung, die ein ganz anderes Bild von Europa zeichnet: Wir liegen innerhalb der italienischen Hoheitsgewässer, weil uns der Bürgermeister und die Zivilgesellschaft der Stadt Siracusa eingeladen hatte dort anzulanden. Zusammen mit vielen weiteren Städten wie Neapel, Palermo, Berlin, Hamburg und Barcelona, versteht sich Siracusa als sicherer Hafen und solidarische Stadt für Migrant*innen und Flüchtende.

Hinter diesen Städten und Bewegungen gilt es zu stehen. Denn die Frage der Migration ist nach wie vor nicht der Kern, aber die Frontlinie des Kampfes gegen die aktuelle reaktionäre Bewegung. Und es ist an uns, der Zivilgesellschaft, den rassistischen Hetzer*innen ein menschliches, fortschrittliches Europa der Vielen entgegen zu stellen und die erstmal symbolischen Erklärungen der solidarischen Städte mit Leben füllen.

Denn nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg, heißt immer auch: Nie wieder Boote ohne sicheren Hafen, nie wieder Flüchtende ohne Zuflucht!

 

Redebeitrag von Isra Mohamed, Studentin der Poltikwissenschaft und Wirtschaft. Gehalten auf der Gedenkkundgebung am 27.1. 2019 in Berlin-Pankow

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Bezirksbürgermeister, liebe Pankowerinnen und Pankower,

wir haben uns heute hier versammelt um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Und ganz besonders möchten wir den 282 Kinder und Säuglingen, 14 Erzieher und Erzieherinnen gedenken, die vor 77 Jahren hier deportiert wurden. Wir möchten ein Zeichen setzen für ein tolerantes und gewaltfreies Miteinander gegen Antisemitismus und Rassismus.

Vor genau 12 Jahre saß ich als gebürtige Jenensern, in der 5. Klasse des Otto-Schott-Gymnasium Jena und las gemeinsam mit meinen Mitschüler/innen das Tagebuch der Anne Frank im Deutsch-Unterricht.

Im Deutsch-, Ethik- und Sozialkunde-Unterricht sprachen wir immer und immer wieder über das selbe Thema; nicht nur in der 5. Klasse, auch in der 6., 7., 8. Klasse und bis zum Abitur.

Der Holocaust. Ein grausame Zeit in Deutschland. Eine Zeit, die wir niemals vergessen dürfen. Eine Zeit, die in den Geschichtsbüchern jedes Jahr abermals ausführlich verzeichnet wird. Detailgetreu. Wann genau wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt? Wie sind die Ermächtigungsgesetze in Kraft getreten? Zeitangaben und Details die in den Klassenarbeiten und Klausuren bis zur 12. Klasse detailgetreu angegeben werden mussten.

Die Kinder und Jugendlichen jammern: Schon wieder das selbe Thema? Ja, schon wieder. Doch was habe ich mit all dem zu tun? Denken alle und denke auch ich.

Einige Mitschüler und Mitschülerinnen erzählen von den Geschichten ihrer Großeltern und Freunden ihrer Großeltern. Ich habe leider nichts zu erzählen. Ich habe diese Zeit nicht erlebt, auch nicht meine Eltern und meine Großeltern auch nicht. Meine Eltern sind vor fast 30 Jahren nach Deutschland aus Libyen gekommen um zu studieren.

Auch wenn meine Großeltern zu Besuch sind, frage ich sie, was sie in dieser schrecklichen Zeit erlebt haben und sie gaben mir immer wieder dieselbe Antwort: Sie wissen nur das was sie aus Radio hörten und Fernseher mitbekamen oder was die Nachbarn erzählt hatten.

Meine Mitschüler/innen mit Migrationshintergrund, die in Jena nur aus 5% des gesamten Jahrgangs bestanden, fragten sich immer noch: Warum schon wieder? Was habe ich damit zu tun? Mir macht es nicht aus – das nochmal zu lernen – dachte ich. Bis mir auf dem Nachhauseweg ganz mulmig wurde und in mir plötzlich die selben Zweifel aufkamen. Was habe ich wirklich damit zu tun? Ich bin doch nicht verantwortlich für das, was grausame unmoralische Menschen taten.

29. Juni 2014 Abu Bakr al-Baghdadi ruft das heutige sogenannt „Islamische Kalifat“ nach der militärischen Eroberung des Nordwesten Iraks und Osten Syriens aus. Alle Nicht-Gläubigen und Andersgläubigen werden exekutiert. Juden und Christen müssen die sogenannte „Jizya“ zahlen, die Kopfsteuer für nichtmuslimische Schutzbefohlene. Ich reibe meine Augen und kann es nicht fassen. Das 21. Jahrhundert und so etwas passiert in unserer Zeit? Unfassbar. unglaublich. Ich möchte nur noch meine Augen schließen und das Gehör meiner Ohren zudrehen – so eine Welt gibts doch nicht.

Ich versuche wieder in die Realität zu kommen. Was habe ich damit zu tun? Nur weil irgendwelche Fanatiker nicht verstanden haben was die Botschaften Islam sind.

24. September 2017 die AfD zieht mit 12,6 % in den Bundestag ein. Große Wahlplakate mit den Aufschriften: „Grenzen sichern“; „Konsequent abschieben“; „In Seenot? Eher die nächste Verbrechenswelle!“;„Der Islam? Passt nicht zu unserer Küche“.

Entsetzt höre ich die Nachrichten. Gestern dachte ich erst: „Die AfD? Was hat die denn zu sagen? Die haben ja noch nichtmal ein richtiges Rentenprogramm und die sollen unser freiheitlich demokratisches Land führen? Das will ich sehen.“ Dachte ich. Doch die Realität sieht ganz anders aus. Und was habe ich nun damit zu tun? Werdet ihr und werden Sie bestimmt denken, würde ich denken. Doch plötzlich betrifft es auch mich. Diese Wahlplakate, ihre Moralvorstellungen, ihre Politik. Ja sie sprechen mich an und Leute, die so denken und aussehen wie ich. Doch warum wieder ich? Warum bin ich ständig betroffen? Was habe ich mit dem IS zu tun? Was habe ich mit Menschen zu tun, die meine Religion instrumentalisieren und für eigene Zwecke nutzen. Warum werde ich immer mit ihnen in Verbindung gezogen?

Flashback. 10 Jahre. Es kommt mir vor wie ein Déjà-vu. Meine Mitschüler/innen mit Migrationshintergrund, die in Jena nur aus 5% des gesamten Jahrgangs bestanden, fragten sich immer noch: Warum schon wieder? Was habe ich damit zu tun? Mir macht es nicht aus – das nochmal zu lernen – dachte ich. Bis mir auf dem Nachhauseweg ganz mulmig wurde und in mir plötzlich die selben Zweifel aufkamen. Was habe ich wirklich damit zu tun? Ich bin doch nicht verantwortlich für das, was grausame unmoralische Menschen taten.

Doch nun mit 21 Jahren weiß ich ganz genau, warum. Ich weiß, warum wir das immer und immer wieder im Geschichtsunterricht wiederholt haben. Ich weiß, warum ich mich mit meinen Eltern Zuhause darüber austauschen sollte. Ich weiß, warum ich meine Großeltern fragen sollte, was sie erlebt haben. Ich weiß, warum ich für die Klausur das Notverordnungsrecht Artikel 48 der Weimarer Verfassung lernen sollte.

Ich bin nicht verantwortlich für den Holocaust, auch nicht du mein lieber Mitschüler mit ägyptischen Wurzeln, auch nicht du meine deutsch-deutsche Freundin, auch nicht Sie meine liebe Geschichtslehrerin. „Nein wir sind nicht Schuld, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht“ wie es Max Mannheimer ein Holocaust-Überlebender gesagt hat.

Nicht nur weil wir deutsch sind – weil wir solch eine grausame Zeit vor noch nicht einmal 100 Jahren hinter uns haben – sondern weil wir in erster Linie Menschen sind. Und gerade weil ich eine Muslimin bin. Vielleicht auch weil ich Politik-Studentin bin und ein hohes Interesse für zivilgesellschaftliche Anliegen verspüre.

Aber doch mehr weil ich Mensch und Muslimin bin. Denn Gott sagt im Koran: „Wer einen Menschen tötet (..) so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet.“ (Sure 5, Vers 32)

Ja und gerade als Muslimin verspüre ich eine große Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft, gegenüber unserer Geschichte und gegenüber Deutschland. Ich darf niemals zulassen, dass die Geschichte sich wiederholt. Ich darf nicht zulassen, dass jüdische Kinder und Schüler aufgrund ihrer Religion diffamiert und benachteiligt werden. Ich darf auch nicht zulassen, dass muslimische Kinder aufgrund ihrer Religion verleumdet oder diskriminiert werden und schon gar nicht ihnen Antisemitismus voreingenommen und grundlos vorgeworfen wird. Denn genauso wie ich mich als Deutsche gegen Antisemitismus ausspreche, so tue ich es auch als Muslimin.

Denn auch am 14.01.2015 nach den Ereignissen von Charlie Hebdo stehe ich in der Mahnwache am Brandenburger Tor – lasse mir vom ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck nicht sagen, ich solle aufhören antisemitischen Parolen auf der Demonstrationen zu rufen. Herr Gauck, ich habe es noch nie antisemitischen Parolen gerufen und ich werde es nie tun. Ich stehe mit ihnen gemeinsam an derselben Stelle, um mich gegen jeglichen Terror und Rassismus entschieden auszusprechen. Das tue ich. Auch heute und hier.

Vielen Dank.