Lichterkette zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

4. Februar 2018

Mehrere hundert Menschen haben am Abend des 27. Januar 2018, dem 73. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen, im Berliner Stadtbezirk Pankow an einer Kundgebung zum internationalen Holocaust-Gedenktag teilgenommen. Gegen 18 Uhr sammelten sich die rund 350 Teilnehmer*innen, viele hatten Kerzen mit dabei, am ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in der Berliner Straße. Dort erinnern seit Jahren auch mehrere Gedenktafeln an die inzwischen rund 800 namentlich bekannten Pankower Jüdinnen und Juden, die während der Shoa umgebracht worden waren.

Die Tafeln werden alljährlich zum 9. November angebracht und um den 27. Januar wieder abgenommen. Die dort verzeichneten Namen wurden durch die jahrzehntelangen Forschungen von Inge Lammel und Gerhard Hochhuth zusammengestellt. Die Gedenkkundgebung und Lichterkette stand unter dem Motto „Für ein tolerantes und gewaltfreies Miteinander, gegen Antisemitismus und Rassismus“.

Die Inhalte der anschließenden kurzen Reden auf der Gedenkkundgebung hatten eines gemeinsam: Die Sorge, dass infolge des starken Rechtsruck durch die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) auch die Bedrohung durch Antisemitismus weiter zunehme. Bevor Pankows Bürgermeister Sören Benn (Die Linke) mit seiner Rede die Lichterkette wie in jedem Jahr eröffnete, erinnerte eine Vertreterin der Kommission für Bürgerarbeit an den Beginn der Gedenkveranstaltungen im Jahr 1999, als die extrem rechten Republikaner ihre Bundeszentrale im durch die Nazis „zwangsarisierten“ Gartenhaus der Familie Garbáty errichteten. Dagegen hatten sich in Pankow starke antifaschistische Proteste formiert.

Im Anschluss sprach André Lohmar von der Pankower Stolpersteingruppe in Vertretung von Gerhard Hochhuth über das Schicksal einer Familie, die durch ihre Nennung auf den Gedenktafeln lokalpolitisch in Erinnerung bleibt. Dr. Dani Kranz sprach über ihr Empfinden als Jüdin in der deutschen Gesellschaft. Später bildete sich aus der Kundgebung ein Demonstrationszug, und er führte einige hundert Meter weiter vor die Berliner Straße 123/124, der bereits genannte frühere Wohnsitz des Zigarettenfabrikanten Josef Garbáty. Hier sprachen Stefan Liebich (Pankower Bundestagsabgeordneter, Die Linke) und ein Vertreter der Pankower VVN-BdA. Auch in diesen Beiträgen wurde deutlich gemacht, dass durch die AfD Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft weiter salonfähig werden. Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Schweigeminute auf der Kreuzung Berliner Straße/Breite Straße sowie das traditionelle Gedenkkonzert mit Schulchören, das in der Pankower Kirche in der Breiten Straße stattfand.

Bereits am 23. Januar waren rund 80 Menschen im Betsaal des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses einer interaktiven Podiumsdiskussion mit dem Titel „Alles deren Schuld“ – Antisemitismus damals und heute gefolgt. Sie war von Expert*innen, die auf dem Gebiet des Antisemitismus forschen, gemeinsam mit den Schüler*innen des Pankower Max-Delbrück-Gymnasiums vorbereitet und durchgeführt worden.

Redebeitrag eines Mitglieds der VVN-BdA Berlin-Pankow zur Kundgebung und Lichterkette gegen Rassismus und Antisemitismus am 27.01.18

Liebe Anwesende,
zum 20. Mal findet diese Kundgebung und Lichterkette nun schon statt. Seit 1998 versammeln wir uns am Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee. Ich spreche heute zu Ihnen im Namen der Pankower Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Wir von der VVN-BdA sind ältere und jüngere Menschen, die den Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft nicht hinnehmen wollen. Einige hochbetagte Mitglieder unseres Vereins wurden selbst noch aus politischen und rassistischen Gründen von den Nazis verfolgt, haben überlebt, haben Widerstand geleistet. Hochsensibel nehmen insbesondere unsere alten und sehr alten Mitglieder wahr, wie Antisemitismus und Rassismus nach wie vor in der Breite und in der Mitte unserer Gesellschaft um sich greifen. Dabei führen auch wir in der VVN-BdA untereinander Diskussionen, insbesondere über das Thema des Antisemitismus und seine neueren Erscheinungsformen.

In der ganzen Gesellschaft werden diese Debatten kontrovers geführt, in den Parteien und Massenmedien, in der politischen Linken und in den Kirchen, ebenso innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaften, in der Weltöffentlichkeit – und auch unter jüdischen Menschen, in den jüdischen Gemeinden und in der israelischen Gesellschaft. Es ist richtig und wichtig, dass diese Debatten geführt werden! Fängt Antisemitismus erst an beim offenen Hass gegen Menschen, die jüdisch sind oder für jüdisch gehalten werden? Kann sich Antisemitismus auch in einer Feindschaft gegen jüdische Einrichtungen und Organisationen, kann er sich auch in einer Feindschaft gegen den jüdischen Staat Israel äußern? Sind Vernichtungsabsichten gegen den Staat Israel antisemitisch? Ist der Antisemitismus nur ein Problem der politischen Rechten? Oder gibt es auch antisemitisch denkende Menschen, die sich selbst für Linke halten? Gibt es Antisemitismus unter christlichen Menschen ebenso wie unter Muslimen oder Nicht-Religiösen?

Alle diese Fragen müssen debattiert werden. Was wir in dieser Debatte aber nicht brauchen, das sind Leute, die Andere des Antisemitismus beschuldigen, aber selbst bis zum Hals im antisemitischen Sumpf stecken. Ein besonders widerwärtiges Beispiel für solche Heuchelei bietet in unserer Zeit die nationalistische und rassistische Partei, die sich selbst eine „Alternative für Deutschland“ nennt. Diese Partei inszeniert sich als besonders eifrige Kämpferin gegen den Antisemitismus – jedoch nur, wenn sie ihn bei Linken oder Muslimen verorten kann. In ihrer eigenen Partei sind die Rechtsextremen und Rechtspopulisten der AfD nicht so eifrig mit der Bekämpfung des Antisemitismus. Zahlreich sind die antisemitischen Vorfälle und Äußerungen aus den Reihen der AfD. In keinem einzigen Fall führte Antisemitismus bisher zum Parteiausschluss.

Doch es geht hier nicht nur um die antisemitisch eingestellten Personen innerhalb der AfD. Schlimmer noch ist der Frontalangriff, den diese Partei seit Jahr und Tag gegen die historisch-politische Auseinandersetzung mit den Verbrechen Nazideutschlands führt. Kurz vor der Bundestagswahl war es, als der AfD-Chef Alexander Gauland den Stolz auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen einforderte. Zu diesen sogenannten Leistungen gehören Angriffskrieg, Raubkrieg, Vernichtungskrieg, gehört die aktive Beteiligung an den nazistischen Völkermorden im Osten Europas. Und vor gut einem Jahr war es, als der AfD-Spitzenpolitiker Björn Höcke in Dresden eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte – frenetisch beklatscht von Hunderten AfD-Leuten. Ein Aufschrei der Entrüstung ging damals durch’s Land. Es lohnt sich, Höckes Rede gründlich zu lesen. Da war nicht nur die Rede von der 180-Grad-Wende und auch nicht nur vom Holocaustmahnmal als einem Denkmal der Schande. Höcke behauptete auch, dass man die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und danach – Zitat – „mit Stumpf und Stiel vernichten“ wollte. Höcke zufolge sind also eigentlich die Deutschen die Opfer, nicht etwa diejenigen, die von Nazideutschland zu Hunderttausenden und Millionen ermordet wurden. Das ist das Geschichtsbild eines Spitzenvertreters derjenigen Partei, die sich dieser Tage als Vorkämpferin gegen den Antisemitismus der Muslime und der Flüchtlinge inszeniert. Höcke sollte nach seiner Dresdner Rede vom Januar 2017 tatsächlich sogar aus der AfD ausgeschlossen werden. Doch nun, ein Jahr später, sind es stattdessen seine innerparteilichen Gegner, die die Partei verlassen mussten. Keine Rede ist mehr vom Ausschlussverfahren gegen Höcke. Der rechtsextreme, völkische Flügel der AfD wird immer stärker.

Liebe Anwesende, im Namen der Pankower Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten verspreche ich folgendes: Wir werden den Angriffen der AfD auf die Erinnerungskultur entgegentreten. Wir werden gegen den Nationalismus, gegen Rassismus und Antisemitismus Widerstand leisten.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein solidarisches und kämpferisches Jahr 2018!

Redebeitrag von Gerhard Hochhuth, Lokalhistoriker und Mitglied der Pankower Stolperstein-Gruppe

585 Namen jüdischer Holocaust-Opfer aus Pankow stehen auf den bronzenen Tafeln drinnen im Eingangsbereich der Janusz-Korczak-Bibliothek. Bis 2001 hatte sie Inge Lammel mit Anderen zusammengetragen.
Als dann 12 Jahre später diese Gedenktafeln hier draußen am Zaun  vor dem ehemaligen jüdischen Waisenhaus angebracht wurden, waren es schon 788 Namen. Und nun sind nochmals 74 Namen dazu gekommen.
Wie kommt das? Ich will es an einem Beispiel erklären. Eine der Personen, die jetzt noch hinzugefügt wurden, ist Ida Schaefer, geb. Grunwald. 1862 geboren, wie 10 Jahre zuvor ihr Mann, der Arzt Dr. Max Schaefer in Myslowitz, der Stadt im sogenannten Dreikaisereck, heute polnisch Myslovice. Wann genau die beiden von dort nach Pankow gekommen sind, wissen wir nicht. Auf jeden Fall wird im Adressbuch erstmals 1880 der praktische Arzt Dr. Max Schaefer genannt, zunächst als Assistenzarzt in der Klinik von Professor Mendel, bald schon mit eigener Praxis und schließlich im eigenen Haus, das er sich 1888 bauen lässt. Breite Straße 39b – gleich hier vorne um die Ecke. Bis vor kurzem war dort „das Hugo“; jetzt ist es „der Apfelbaum“.

Ida und Max Schaefer bekommen zwei Kinder: 1885 Tochter Margarete, drei Jahre später Sohn Hans. Die Arztpraxis läuft gut. Nach einem Großbrand in der Parkstraße wird in Pankow die Freiwillige Feuerwehr gegründet. Dr. Schaefer ist Gründungs- und Vorstandsmitglied, dazu auch Feuerwehrarzt. Sein Foto findet sich auf der Ehrentafel zum 25jährigen Jubiläum. Als er 1923 stirbt, führt Dr. Hans Schaefer, der wie sein Vater Medizin studiert hat, die Praxis weiter. Margarete Schaefer, die Tochter, hatte 1909 den Direktor der Bagdadbahn, Hermann Galewski, geheiratet, auch er Jude. Nach dem 1. Weltkrieg gehört er zum Vorstand der Philipp Holzmann AG in Frankfurt, zuletzt als Vorstandsvorsitzender. Doch 1933 – mit den Nazis – verändert sich alles. Hermann Galewski wird in den Ruhestand gedrängt und zieht mit seiner Familie nach Berlin, wo er 1937 stirbt. Hans Schaefer hat als jüdischer Arzt in Pankow keine Chancen mehr und emigriert 1935 nach England. Seine Mutter, Ida Schaefer, vermietet Wohnung und Praxis in der Breiten Straße an den „arischen“ Arzt Herbert von Arnauld, an den sie dann 1939 das ganze Haus zwangsverkaufen muss. Ihre ursprünglichen Pläne, dem Sohn nach England zu folgen, lassen sich nicht verwirklichen. So bezieht sie ein kleines Zimmer in der Wohnung ihrer Tochter zuerst in Nikolassee, nach dem Tod des Schwiegersohns in Wilmersdorf. Als Margarete schließlich noch 1940 nach Australien flüchten kann, bleibt für die fast Achtzigjährige nur noch ein sogenanntes „Judenhaus“ in der Knesebeckstraße in Charlottenburg.Von dort aus wird sie am 25. August 1942 nach Theresienstadt deportiert und noch im selben Jahr ermordet.

Die Familie Schaefer steht für das, was jüdisches Leben für Pankow bedeutet hat und was durch den verblendeten Rassismus eines ganzen Volkes auf so schreckliche Weise ausgelöscht wurde. Ida Schaefer hat fast 60 Jahre lang in Pankow gelebt, in unmittelbarer Nachbarschaft zur evangelischen Kirche.  Sie hat zwei Kinder großgezogen und den Arzthaushalt gemanagt. Ihr Mann und ihr Sohn haben als Ärzte nicht nur bei der Feuerwehr großes Ansehen genossen; die Tochter hat einen berühmten Baurat geheiratet. Wie ist es möglich, dass sie bisher nicht als Pankower Jüdin und Opfer des Holocaust benannt werden konnte? Die Erklärung ist vielschichtig; ich möchte nur zwei Gründe nennen: Durch das Internet, das Inge Lammel noch nicht zur Verfügung stand, haben sich die Recherchemöglichkeiten erheblich verbessert. Der direkte Zugriff auf Archive und Datenbanken in der ganzen Welt, insbesondere auch auf die Berliner Adressbücher, fördert ganz neue Zusammenhänge zutage. Dadurch sind es nicht mehr nur die Angaben der Volkszählung vom Mai 1939, die lange Zeit für die Adresse der jüdischen MitbürgerInnen ausschlaggebend waren und auch Eingang ins Berliner Gedenkbuch gefunden haben. Denn sie können ja nichts darüber aussagen, ob die Betroffenen schon vor diesem Stichtag ihre angestammte Wohnung verlassen mussten, oder ob sie durch die Zwangsmaßnahmen der Nazis erst kurz zuvor in diese Wohnung eingewiesen worden waren. So erklärt sich, dass Ida Schaefer – wie viele andere – hier bei uns nicht bekannt war: Bei der Volkszählung wohnte sie schon bei ihrer Tochter in Wilmersdorf; diese Adresse steht auch im Berliner Gedenkbuch; auf der Transportliste ist das Charlottenburger Judenhaus genannt. Erst jetzt konnte herausgefunden werden, dass sie ganz und gar eine Pankowerin gewesen ist. So wird an „Ida Schaefer, geb. Grunwald, Jahrgang 1862“ jetzt auch auf diesen Gedenktafeln erinnert, und ich hoffe, dass noch in diesem Jahr ein Stolperstein vor ihrem Haus, Breite Straße 39b, verlegt werden kann.